Unterwegs in der Welt der Musik. Zwei Texte zum Gedenken an Dr. Jan Reichow (1940–2025).
Von Norbert Rodenkirchen und Benjamin Bagby
Zum Jahresausklang greife ich zum Stift, um zusammen mit meinem Kollegen und Freund Benjamin Bagby den von uns geschätzten Jan Reichow zu würdigen. Leider ist er im Jahr 2025 verstorben, und im Trubel des Jahres war wenig Zeit, innezuhalten und ihm angemessen zu gedenken. Doch wo soll man ansetzen bei der Rückschau auf einen solch einzigartigen Charakter, einen solch universellen Weltenwanderer zwischen Orient und Okzident, zwischen alter und traditioneller Musik, zwischen Live-Bühne, Radio und CD-Produktion? Benjamin Bagby und ich wollen es mit einem Tandem aus zwei Texten zu unterschiedlichen Perioden seines Wirkens versuchen.
Kölner Klangkoordinaten zwischen Ost und West
Von Norbert Rodenkirchen
Für einen jungen Menschen sind manche Menschen wie eine feste Größe im Koordinatensystem des kulturellen Lebens. Sie scheinen schon immer da gewesen zu sein. Obwohl sie Ungewöhnliches leisten, fällt dies oft erst auf, wenn sie nicht mehr da sind. So geht es mir mit Dr. Jan Reichow, dem ehemaligen WDR-Redakteur und langjährigen Leiter des WDR-Weltmusikfestivals (ehemals Folkfestival genannt), einem musikalischen Denker und Brückenbauer zwischen Ost und West. Seit frühester Jugend kenne ich seine Radiobeiträge, die auch mich als Musiker prägten. Vor allem ist aber die einzigartige Weltmusik-CD-Reihe mit Liveaufnahmen World Networks beim Verlag Zweitausendeins zu nennen, die viele außergewöhnliche Aufnahmen von höchstem künstlerischem Wert dokumentiert, die er produzierte und die einige meiner persönlichen All-Time-Favorites auf CD enthält (u. a.: World network 7 „Zimbabwe – Mbira musicians + Kevyn Volans”, https://www.youtube.com/watch?v=P1TCcCU-meA
World network 31 “Rajasthan – Kohinoor Langa Group, Music from the desert nomads”,
https://www.youtube.com/watch?v=xjWPpL0oq3Q)
Musikalischer Brückenbauer Jan Reichow: die ganze Welt der Klänge am Rhein
Ebenso begeisterten mich die vielen von ihm veranstalteten Konzerte mit Musiker:innen aus nicht europäischen Zusammenhängen. Besonders beeindruckt war ich 1985 von seinem Festival über indische Musik in der Kölner Musikhochschule, bei dem Stars wie Ravi Shankar, Alla Rakha, Shiv Kumar Sharma, Zakir Hussain, Hariprasad Chaurasia und viele andere im Beisein von Ministerpräsident Johannes Rau auftraten. Danach war für mich als junger Musiker die Welt der Klänge nicht mehr dieselbe wie vorher.
Modale Gemeinsamkeiten zwischen mittelalterlicher und orientalischer Musik
Schließlich durfte ich ihn im höheren Alter persönlich kennenlernen. So ergab sich die Gelegenheit, ihn zu einem von mir kuratierten Konzerttag „Klangwege“ im Rahmen der Afghanistan-Ausstellung 2009 in der Bonner Bundeskunsthalle einzuladen. Wunderbar anregend war sein Fachvortrag über Klangkulturen entlang der Alexanderroute und modale Gemeinsamkeiten zwischen mittelalterlicher und orientalischer Musik. Er untermalte seinen Vortrag mit Tonbeispielen aus seiner Zusammenarbeit mit dem Ensemble Sequentia. Passend dazu bezieht sich nun Sequentias Leiter Benjamin Bagby im folgenden Essay auf diese frühere Zeit, die ein völlig anderes Koordinatensystem für das kulturelle Leben aufwies als heute – mit anderen Möglichkeiten, aber auch anderen Problemen. Jan Reichow war zweifellos ein echter Problemlöser und Macher, der dennoch für tiefgreifende Reflexionen stand. Produzenten wie Jan Reichow, die so vielseitig aktiv sind, bräuchten wir in unserer Zeit vielleicht noch stärker als damals. Nicht umsonst wurde ihm 1996 das Bundesverdienstkreuz „für seinen außergewöhnlichen Beitrag zur Völkerverständigung und zum Kulturaustausch” verliehen. Wir sagen Danke einem großen Inspirator, der ganz leise gegangen ist!
Jan Reichow in Casablanca (1981)
Erinnert von Benjamin Bagby
Saiten aus Seide, eine andalusische Laute für Köln
Nach der Gründung des Ensembles Sequentia in Köln im Jahr 1977 war unsere erste und wichtigste künstlerische Beziehung die zum Sender WDR, der in diesen Jahren in erstaunlichem Tempo Aufnahmen produzierte; für bis zu 14 wöchentlichen Sendestunden mit originellen Musikinhalten in der Abteilung Alte Musik. Es war eine blühende Zeit im Musikleben Kölns und NRWs. Natürlich schlug unser noch ganz junges Ensemble mehrere Aufnahmeprojekte mit mittelalterlicher Musik vor. Für eines sollten wir mit dem Leiter der „Abteilung Volksmusik”, Jan Reichow, zusammenarbeiten. Es handelte sich um ein Projekt, das sich um die Musik im Spanien des 13. Jahrhunderts am Hofe des kastilischen Königs Alfons X. (dem Weisen) drehte, einem Treffpunkt christlicher, muslimischer und jüdischer Musikkulturen. Wir schlugen vor, einige der „Cantigas de Santa Maria” aufzunehmen, und äußerten den Wunsch, dass hierfür eine spezielle Laute rekonstruiert werden sollte, basierend auf Illustrationen in der mittelalterlichen Handschrift. Diese große und ungewöhnliche Laute sollte eine Decke aus Pergament und Saiten aus Seide haben. Jan Reichow war an dem Projekt interessiert, und der WDR finanzierte die Herstellung des Instruments. Dies gipfelte in einer Produktion, die 1980 im Santa Klara Keller aufgenommen und später ausgestrahlt wurde. Es war der Beginn einer herzlichen und anregenden beruflichen Freundschaft zwischen Sequentia und Jan Reichow.
Fokus Andalusien
Im darauffolgenden Jahr 1981 war Casablanca die letzte Station unserer 12-wöchigen Konzerttournee mit dem Goethe Institut durch Indien, Pakistan, Bangladesch, den Nahen Osten und Nordafrika. Jan Reichow plante während dieser Zeit ebenso in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut eine ambitionierte WDR-Produktion und internationale Konferenz. Es ging hierbei um die Forschung rund um die Musik des mittelalterlichen Andalusien, welche Christen und Muslime zusammenbrachte. Und ebenso ging es darum, die noch heute aufgeführte Musik zu untersuchen, welche diejenigen Muslime und Juden begleitete, die aus Spanien vertrieben wurden und in die Diaspora gingen. Einige ihrer musikalischen und poetischen Künste, die in den Maghreb übertragen wurden, blühten weiter auf, entwickelten sich über Jahrhunderte hinweg weiter und sind noch heute zu hören, insbesondere in Marokko, unter dem allgemeinen Namen „andalusische Nuba“. Reichow, ausgebildeter Musikwissenschaftler und als Geiger selbst Musiker der alten Musik, interessierte sich besonders für dieses Thema. Er kam mit einem Aufnahmeteam des WDR aus Köln nach Casablanca und half bei der Organisation der Konferenz im Goethe-Institut, zu der Wissenschaftler aus Europa und der arabischen Welt eingeladen waren. Besonders bemerkenswert war die Anwesenheit des führenden Spezialisten für arabische Musik Habib Hasan Touma aus Berlin. Es gab Tage und Abende mit Vorträgen, aber auch Streitigkeiten, lange Reden und verletzte Egos. Der vermittelnde Reichow war die ganze Zeit als Teilnehmer dabei.
Guter Humor im Aufnahme-Chaos
Später war eine Aufführung der andalusischen Nuba in der Stadt Fes geplant, dargeboten vom renommiertesten Nuba-Ensemble der Stadt unter Leitung von Abdelkrim Raïs. Diese Musiker wurden in der traditionellen marokkanischen Gesellschaft hoch verehrt. Die Aufführung fand in einem echten andalusischen Palast statt, mit kunstvoller Ausstattung und Dienern, die den Zuhörern kleine Gläser mit süßem Minztee servierten. In einem Nebenraum hatte die Tontechnik des WDR ihr Studio eingerichtet, wobei Jan Reichow die Aufnahme im Wesentlichen improvisierte, soweit es die Umstände und das Publikum zuließen. Er wurde für seinen guten Humor und seine Gelassenheit während dieses eher chaotisch verlaufenden Abends sehr bewundert.
Die gemeinsame Sprache der Musik
Schließlich schloss sich Sequentia mit vier Musiker:innen einigen der Nuba an was für Aufsehen sorgte. Die Galaveranstaltung wurde ein großer Erfolg, und die WDR-Aufnahme ist legendär. Am nächsten Tag nahmen wir alle denselben Flug nach Köln: Jan Reichow und das WDR-Team, das zehnköpfige Nuba-Ensemble und die vier Mitglieder von Sequentia. Dasselbe Konzert wurde dann unter ganz anderen Umständen im großen Sendesaal des WDR bei der damals beliebten Reihe „Nachtmusik im WDR” wiederholt. In seiner Eröffnungsrede beschrieb Jan Reichow die marokkanische Aufführung und spielte einige Ausschnitte aus der Aufzeichnung dieses Events mit den begeisterten Reaktionen des dortigen Publikums dem Kölner Publikum vor, welches zwar zurückhaltender war, aber dennoch von der ganzen Leidenschaft Jan Reichows für dieses Projekt ergriffen wurde, ein Projekt, welches sicherlich einen Meilenstein in der Geschichte des WDR markierte, sowohl in Jan Reichows Engagement für die Musik der Welt als auch für die Alte Musik. Es war eine echte Hommage an die Harmonie und die gemeinsame Sprache der Musik.